Funde geschehen bei systematischen Suchen wie auch zufällig; sie setzen jeweils Kenntnisse und Kriterien voraus. Das Auffinden eines Buches, das in Frankfurt von der NS-Stadtregierung geraubt worden war, bildet das mittelbare Ergebnis einer déformation professionelle: es wurde entdeckt, weil der Finder seine langjährige berufliche Befassung in bezug zur Kommunalpolitik auch in seine Freizeit zur Unterhaltung ausdehnte und dafür parliamentary novels und angelsächsische politische Romane liest. Für eine weitere Sammelrezension, in der er diese präsentieren möchte, nutzt er die Institutsbibliotheken der Anglistik und Amerikanistik.
Dabei sah er gegen Ende eines Buches einen Stempel mit dem NS-Hoheitszeichen: Adler mit Hakenkreuz. Dies war im Zentrum des runden Stempels, der darum in Kreisform die einschlägige Institution in Fraktur benennt: „Englisches Seminar der Universität Frankfurt a.M.“. „[M]aßgebend für die Gestaltung des Stempels des Englischen Seminars war der ´Erlaß über die Reichssiegel´ vom 7. März 1936 (RGBl I, 147).“[1] Diese Dienststempel wurden an der Goethe-Universität mit der Beschaffung am 22. September 1936 ausgegeben.[2]
Das Buch war von John Buchan mit dem Titel „A Prince of the Captivity“, veröffentlicht in London 1933. Im vorderen Innenband des Covers befindet sich links oben die Signatur „Ti 376“ (wohl mit Bleistift geschrieben), darunter ein Exlibris, das ein Wappen, enthält, und unten die Angabe „Waldfried“ enthält. Auf dem Deckblatt steht anscheinend der Preis des Buches: „2,50“. Ein zweiter Stempelabdruck des Instituts aus der Zeit des „Dritten Reiches“ wurde auf dem Titelblatt getätigt, wo zudem die zugehörige Signatur „365“ in einen Stempel „Engl. Sem. Inv.-Nr.“ geschrieben wurde.[3]
Das Exlibris führt zu Carl von Weinberg, denn es enthält sein Wappen: „Das Wappen bilden drei Kornblumenblüten, ein steigendes Pferd ist die Wappenzier“.[4] Seine Villa führte den Namen „Waldfried“. Vielleicht interessierte das Buch seine Frau? May von Weinberg war gebürtige Engländerin.[5] Vom Sehen her bekannt ist in Frankfurt von der Villa des Ehepaares noch der Renaissancebrunnen aus deren römischen Garten; der Brunnen befindet sich nun in der Wallanlage neben dem Nebbien´schen Gartenhaus.[6] Carl von Weinberg hatte von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Universität 1927 die Ehrendoktorwürde erhalten.[7]
Die Signatur vom Innencover stammt wohl nicht aus der Bibliothek[8] in der Villa. Es mag aber eher so sein, daß sie eine frühere Signatur des Englischen Seminars war; denn aus dessen Bestand ist im Band I des Romans „Lord Ringo“ von Arnold Bennett aus dem Jahr 1927 im Innencover mit Tinte die Signatur „Ti 240/22“ angegeben worden. Im Buch befindet sich ein runder Institutsstempel mit dem Außentext „Universität Frankfurt a. M.“ sowie innen „Englisches Seminar“, beide in lateinischen Majuskeln.[9] Im Buch von Edna Ferber: „Roast Beef, Medium […]“ von 1913[?], Ausgabe New York 1927, ist im Innencover sowie auf S. [IV] eine Signatur „Tu Fer 22“ mit Bleistift geschrieben,[10] welche in ihrer Schreibweise der Signaturen bei Buchan and Bennett ähnelt. Ein runder Institutstempel befindet sich dort auf S. [III] und auf einer Innenseite des Buches mit der Umschrift „Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M.“ – er muß also nach der Umbenennung der Universität 1932 verwendet worden sein – und der Angabe im Innern „Englisches Seminar“.
Der für die Markierung als Eigentum von Büchern der Seminarbibliothek verwendete NS-Institutsstempel ist nach 1945 mittels der Entfernung des Hoheitszeichens weiterhin genutzt worden.[11]
Der Inventarstempel im Buch, das Carl von Weinberg gehört hatte, führt zur Frage, ob und wo es Aufzeichnungen zum Inventar gibt. Denn ein viereckiger Stempel „Amer.Inst. Inv.-Nr.“ mit der Angabe „1173“ findet sich zum Beispiel in einem Buch von 1956 zusammen mit einem runden Institutsstempel, in dessen Mitte der alte Goethe abgebildet ist.[12] Zudem stellt sich die Frage, von wann bis wann die alphanumerische Signatur der Art von „Ti 376“ verwendet wurde, die sich beim letztgenannten Buch zeigt mit „Lc 3468“, und ob es zu dessen Bestand Unterlagen gibt.
Der Raub jüdischen Privateigentums wie auch die Ausplünderung der von Frankfurts Juden gegründeten Stiftungen durch die hiesige Stadtverwaltung gehören zum Kontext. [13]
Carl von Weinberg wird gegenwärtig in Frankfurt geehrt durch eine Schule – eine integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe –, die nach ihm benannt worden ist, sowie durch die Carl von Weinberg-Straße im Stadtteil Dornbusch.
Es wäre noch im Bestand der Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu prüfen, ob weitere Raubbücher aus dem Eigentum von Carl von Weinberg vorhanden sind.
Der Dank geht an das Universitätsarchiv, dem Leiter Herrn PD Dr. habil. Michael Maaser, und Herrn Eckehard Gottwald, zuständig für die Sammlung Siegel und Medaillen.
Gunter Stemmler
Der Finder ist ein Historiker, der sich mit führenden NS-Kommunalpolitikern befaßt hat, die von der Goethe-Universität nach 1945 geehrt wurden, sowie mit Universitätsprofessoren, die an ihr in der NS-Zeit aktiv waren; von daher verfügt er auch über einige Kenntnisse zur Provenienzforschung.
[1] Eckehard Gottwald, Universitätsarchiv, Mail vom 03.12.2020.
[2] Eckehard Gottwald, Universitätsarchiv, fernmündliche Mitteilung vom 11.12.2020.
[3] Die Währung ist noch offen. Diese Preisangabe könnte auch von einem Kauf aus Privatbesitz nach 1945 stammen, wenn es nicht den NS-Stempel gäbe.
[4] Maué, Hermann, Drei Pioniere der Farbenchemie. Leo Gans, Arthur und Carl v. Weinberg, in: Monatsanzeiger / Germanisches Nationalmuseum, September 1987, Nr. 78, S. 626f., hier S. 627 [digital UB Universität Heidelberg] ; vgl. das Cover auf: Mack, Ernst, Die Frankfurter Familie von Weinberg. Im Zeichen der Kornblumenblüten, Frankfurt am Main 2000.
[5] Siehe z. B. Kern, Ursula, Ethel May von Weinberg, geb. Villers Forbes (1866-1937), in: Frankfurter Frauenzimmer, http://www.frankfurterfrauenzimmer.de/bp10-detail.html?bio=ai [Letzter Zugriff am 8.2.2021].
[6] Siehe z. B. dessen Abbildung von ca. 1910, in Schomann, Heinz, Die alten Frankfurter Brunnen, Frankfurt am Main, 1981, S. 162.
[7] Er wurde mit dem „Dr. rer. pol. h.c.“ geehrt, siehe Weinberg, Carl Maximilian von, in: Hessische Biografie <https://www.lagis-hessen.de/pnd/11726220X> (Stand: 14.3.2020). Sein Bruder Arthur war der 19. Ehrenbürger und 4. Ehrensenator der Goethe-Universität, siehe Stemmler, Gunter, Die Vermessung der Ehre. Zur Geschichte der Ehrenbürger, Ehrensenatoren sowie Ehrenmitglieder an deutschen Hochschulen und an der Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main [u.a.] 2012, S. 159, 164.
[8] Siehe Fotografie in https://www.luederhniemeyer.com/aha.luederhniemeyer/aha1612d.php [Letzter Zugriff am 20.11.2020].
[9] Siehe dort auf S. [3] sowie zweimal auf S. 100f.
[10] Dort befinden sich noch drei weitere Signaturen sowie zwei zusätzliche auf S. [III] wie auf den Leerblättern am Ende.
[11] Siehe z. B. auf dem Titelblatt der Trilogie von John Dos Passos mit dem Obertitel „U.S.A.“, veröffentlicht in New York im Jahre 1937, welches die Inventarnummer „969“ hat. Dieser Stempel findet sich hier fast durchweg auf den Seiten mit der Endung „51“.
[12] Siehe Rideout, Walter B., The Radical Novel in the United States 1900-1954. Some Interrelation of Literature and Society, Cambridge Mass. 1956.
[13] Siehe dazu Stemmler, Gunter, Schuld und Ehrung. Die Kommunalpolitiker Rudolf Keller und Friedrich Lehmann zwischen 1933 und 1960 – ein Beitrag zur NS-Geschichte in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2017: [12.10.2017] urn:nbn:de:hebis:30:3-445442; http://d-nb.info/114137935X; Stemmler, Gunter, Bruno Müller – Frankfurter Stadtrat für Stiftungen, Hamburg 2020. Reihe: Forschungen zur Frankfurter NS-Elite vor und nach 1945, Bd. 2.