Geboren und aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus, verfasste Ruth Koplowitz nach ihrem Studienabschluss an der Goethe-Universität Frankfurt ihre Dissertation mit dem Thema „Hölderlin als Briefschreiber“1. Nach der Heirat mit ihrem Studienkommilitonen Paul Heinrichsdorff im März 1932 nahm sie dessen Nachnamen an, der auch in ihrer Studentenakte an der Universität geändert und in der Doktorurkunde angegeben wurde.2
Viele Jahrzehnte später rezipierte ihre Deutsch-Schülerin in Australien, Anna Funder, unter Verwendung abweichender Nachnamen, vor allem die nun folgenden Entwicklungen in Ruth Heinrichsdorffs Leben in ihrem Roman „All that I am“ (2011). Dieser beschreibt in zwei Erzählsträngen die teilweise fiktive Verbindung von der nach Australien emigrierten, inzwischen hochbetagten Ruth Becker zu einer sozialistischen Gruppe im Londoner Exil rund um den Schriftsteller und Politiker Ernst Toller (1893-1939) während der Zeit des Nationalsozialismus.3
Parallel zum Beginn ihres Lebens als Ruth Heinrichsdorff verbreiteten sich auch für die Universitätsangehörigen, die nicht in das System des aufstrebenden nationalsozialistischen Regimes passten, die vernichtenden Restriktionen in Form einer Reihe von Erlässen des Preußischen Kultusministeriums. Obgleich ihrer jüdischen Konfessionszugehörigkeit und der schon früher erfolgten Auswanderung der Heinrichsdorffs nach London, beides in Augen der Nationalsozialisten Gründe für eine Degradierung, erfolgte die Entziehung ihres Titels erst mit einer Verurteilung wegen Hochverrats, die sie 1936 ereilte.4 Dem voraus waren Aktivitäten im Kreis der britischen Gruppe der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) gegangen, die unter anderem Verbindungen zu den unter bis heute umstrittenen in London ums Leben gekommenen Aktivistinnen Dora Fabian (1901-1935) und Mathilde Wurm (1874-1935) beinhalteten. Die Verknüpfung mit diesem aufsehenerregenden Fall und die fiktive verwandtschaftliche Verbindung zwischen ihrer Protagonistin Ruth Becker und Dora Fabian stellt in Funders Roman eine Intensivierung der dramatischen Ereignisse im Exil dar.
Anna Funder traf die inzwischen zum zweiten Mal verheiratete Ruth Blatt in den 1990er Jahren in ihrer neuen Heimat Australien. Aus den Erzählungen ihrer Lehrerin und auch Freundin exzerpierte Funder die Umstände der Entfremdung und Trennung vom ersten Ehemann Paul Heinrichsdorff 1934, des Verrats ihrer Freunde im Londoner Exil, die Verhaftung an der deutschen Grenze und die formalen sowie psychischen Konsequenzen, die für sie daraus folgten.5
In der Promotionsakte von Ruth Heinrichsdorff ist folgender Vermerk zu finden:
„Ruth Heinrichsdorff ist durch Urteil des Volksgerichtshofes zu einer längeren Zuchthausstrafe und zugleich zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt worden. Sie hat damit ohne weiteres nach §33 des Strafgesetzbuches ihre Doktorwürde verloren.“6
Dieser Einschnitt in eine für damals noch eher seltene Karriere einer Frau dürfte für Ruth Heinrichsdorff zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung kaum von Bedeutung gewesen sein. Erst nach Ende der fünfjährigen Zuchthausstrafe und der anschließenden kräftezehrenden Übersiedelung nach Shanghai per Schiff, von wo Ruth 1947 nach Australien weiterreisen konnte, kehrte wieder etwas Ruhe in ihr Leben ein. Im März 1947 fragte der Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, ein Freund von Ruths Bruder Oskar Seidlin (1911-1984), unter ausdrücklicher Verwendung ihres akademischen Titels bei der Universität Frankfurt ein Duplikat ihrer Doktorurkunde an:
„Fr. Dr. Koplowitz ist ins deutsche Konzentrationslager gekommen, ist dann nach China und schliesslich nach Australien geflohen. Auf dieser Flucht ist ihre Doktorurkunde verloren gegangen, die sie jetzt, um eine Lehrstelle zu finden, braucht. (…) Fr. Dr. Koplowitz bittet um eine Dublette ihrer Urkunde, die sie den Behörden gegenüber verwenden kann.“7
Im Rahmen der später erfolgreich aufgenommenen Arbeitsstelle als Deutschlehrerin lernte Ruth Blatt ihre Schülerin und spätere Freundin Anna Funder kennen, die sich nach ihrem Tod schließlich dankenswerterweise mit ihrem Roman um die Erinnerung an das Einzelschicksal einer in den 1930er Jahren Graduierten der Frankfurter Universität verdient machte.
[1] Vgl. die Aussage Funders in Gesprächsaufzeichnungen mit Ruth Blatt, die 2011 vom Australischen Rundfunksender abc veröffentlicht wurden: https://www.abc.net.au/radionational/programs/archived/hindsight/a-contrary-woman/3692830 (10.01.2020).
[3] Vgl. UAF Abt. 136, Nr. 448, Bl. 7. Das Jahr der Hochzeit ist den Gesprächsaufzeichnungen mit Anna Funder entnommen: https://www.abc.net.au/radionational/programs/archived/hindsight/a-contrary-woman/3692830 (10.01.2020).
[4] Funder, Anna/Böhnke, Reinhild (Übers.): Alles was ich bin, Frankfurt am Main 2014. Zu den historischen Begebenheiten rund um Ruth Heinrichsdorff und die Aktivitäten der SAP im britischen Exil vgl. die Untersuchungen von Charmian Brinson. Brinson, Charmian: Ruth Heinrichsdorff: An SAP Activist in British exile, in: Dies. (u.a. Hgg.): Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933-1945, München 1998.
[5] Vgl. Becker, Katharina: Die Aberkennung des Doktorgrades im Dritten Reich. Das Beispiel Frankfurt am Main, Abschlussarbeit zur Erlangung des Magister Artium, Frankfurt am Main 1993.
[6] Vgl. Brinson, Charmian: The strange case of Dora Fabian and Mathilde Wurm. A study of German political exiles in London during the 1930’s, Bern 1997.
[7] UAF Abt. 136, Nr. 448, Bl. 6.