Was erst still gekeimt in Sachsen,
soll am Maine freudig wachsen.
Flach auf guten Grund gelegt,
Merke wie es Wurzeln schlägt!
Dann der Pflanzen frische Menge
Steigt in lustigem Gedränge.
Mäßig warm und mäßig feucht
Ist, was ihnen heilsam deucht.
Wenn du’s gut mit Liebchen meinst,
Blühen sie dir wohl dereinst.[i]
Besondere Zeiten ergeben besondere Überraschungen. Die traditionelle Feier von Goethes Geburtsstunde am 28. August „mittags mit dem Glockenschlage zwölf“[ii] im Universitätsarchiv Frankfurt musste in diesem Jahr wie so viele Veranstaltungen der Priorität von Gesundheit und Sicherheit weichen. Dennoch erreichte ein bemerkenswertes Geschenk das Archiv als Stellvertretung für den eigentlichen Jubilar, der in diesem Jahr seinen 271. Geburtstag gefeiert hätte.
Kallanchoe Pinnata aus der Familie der Dickblattgewächse heißt die hier noch zarte Pflanze, an der Johann Wolfgang Goethe verständlicherweise große Faszination fand: Neben roten bis violetten Kelchblüten bilden die sukkulenten Blätter an ihren Rändern Brutknospen aus; es wachsen also weitere kleine Pflänzchen auf Ihnen, auf die wir bei unserem kleinen Ableger nun gespannt warten können.[iii] „Diese keimenden Mutterblätter sind es gewesen, die Goethes besondere Aufmerksamkeit fanden und ihn zur Beschäftigung mit der Pflanze führten.“[iv]
Goethes Beschäftigung mit der Naturwissenschaft in all ihren Facetten ist selbstverständlich hinreichend bekannt – doch wie kam er nun ausgerechnet zu den Beobachtungen an einer Sukkulente, die später einmal seinen Namen tragen sollte? Unter dem Namen Bryophyllum calycinum kam um die Wende zum 19. Jahrhundert die eigentlich in Madagaskar beheimatete und in Europa noch kaum bekannte Pflanze in den Botanischen Garten Kew, London und von dort 1814 schließlich erstmals nach Deutschland – genauer Hannover.[v]
„1817 tifft ein erstes Exemplar von Bryophyllum clycinum – wahrscheinlich von Hannover gesandt – im Botanischen Garten zu Belvedere ein, hier lernt Goethe bei einem seiner häufigen Besuche dieses wichtigsten Botanischen Gartens des Weimarer Großherzogtums die Pflanze kennen.“[vi]
Nachdem sie im Sommer 1818 zum ersten Mal Brutknospen zeigte, diente ein Ableger der Pflanze zum darauffolgenden Jahreswechsel bereits erstmals zum Geschenk – an niemand Geringeren als Goethes Freund und Vertrauten Großherzog Carl August selbst. Geplante naturwissenschaftliche Veröffentlichungen zu Goethes neuem botanischen Favoriten scheiterten zwar; er „publiziert lediglich zwei verhältnismäßig unbedeutende, fragmentarische Notizen in seinen […] naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen ‚Zur Morphologie‘“[vii], in seinen Briefen und Gedichten – vor allem an Marianne Willemer – schlägt sich die persönliche Begeisterung für das Gewächs ähnlich wie die frühere für den Ginkgo biloba nieder.[viii]
Doch nicht nur Worte über die heute sogenannte Goethe-Pflanze wurden von ihm eifrig versendet, die Pflanze selbst wurde in Form zahlreicher Blätter und Ableger zum regelrechten Freundschaftssymbol. „Goethe hat Bryophyllum-Pflänzchen und – Blätter gern ihm nahestehenden Menschen gezeigt, geschenkt oder zugesandt. […] Die sich ständig ‚verjüngenden‘ Blätter des Bryophyllum calycinum wurden für Goethe zum Sinnbild bleibender, stets erneuerter Gefühle der Zusammengehörigkeit und des Gedenkens.“[ix]
Dass nun wir als Universitätsarchiv Frankfurt uns an einem so ungewöhnlich ruhigen Geburtstag Goethes durch das Geschenk einer jungen Kallanchoe Pinnata gewissermaßen in diese Tradition einfinden dürfen, hat das gesamte Team wirklich gefreut. Daher im Namen aller und gewiss auch des Jubilars selbst: Danke für die Blumen!
[i] Goethe in einem Brief mit einem Pflanzenblatt an Marianne von Willemer nach Frankfurt am Main am 12. November 1826, zitiert nach: Günter Steiger: Diesem Geschöpfe leidenschaftlich zugetan. Bryophyllum clycinum – Goethes „pantheistische Pflanze“, Weimar 1986, S. 18.
[ii] Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Erstes Buch, Tübingen 1811, S. 3. http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV001160009/ft/bsb10858626?page=20
[iii] Vgl. Urs Egli: Sukkulentenlexikon Bd. 4, Crassulaceae (Dickblattgewächse), Stuttgart 2003, S. 175.
[iv] Günter Steiger: Diesem Geschöpfe leidenschaftlich zugetan. Bryophyllum clycinum – Goethes „pantheistische Pflanze“, Weimar 1986, S. 17.
[v] Zu den Varianten der Namensgebung und verwandten Arten derselben Pflanzenfamilie vgl. genauer: Günter Steiger: Diesem Geschöpfe leidenschaftlich zugetan. Bryophyllum clycinum – Goethes „pantheistische Pflanze“, Weimar 1986, S. 20ff.
[vi] Ebd. S. 29.
[vii] Ebd., S. 33. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Morphologie, hg. von Dorothea Kuhn, Frankfurt a.M. 1987, S. 649f. u. S. 664f.
[viii] Vgl. Ebd. S56f.
[ix] Vgl. Ebd., S. 50.