Unter diesem Titel reichte der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im Jahr 1952 eine Dissertation an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt ein. Seit drei Jahren war der Jurist und Politiker zum damaligen Zeitpunkt als Bundestagsabgeordneter in der Fraktion der CDU tätig und hatte ab 1951 auch dem Vorstand dieser Partei angehört. Aufgrund seiner Vergangenheit als Parteimitglied in der NSDAP seit 1933 und seiner Tätigkeit in der „Rundfunkpolitischen Abteilung“ des Auswärtigen Amtes während des Krieges wurde er nach 1945 und vor allem in seiner Zeit als Kanzler der umstrittenen großen Koalition (1966-1969) von vielen Seiten kritisiert.
Die Beweggründe, weshalb der zu Beginn der 1950er Jahre aufstrebende Bundestagsabgeordnete Kiesinger aus Württemberg in Frankfurt eine Promotionsschrift über Tocqueville einreichte, lassen sich heute nur schwer ermitteln. Fest steht, dass der vorgesehene Doktorvater Ernst Wolf einst selbst Kiesingers Schüler gewesen war und Kiesinger ihm im Jahr 1937 geholfen hatte, aus der Folterhaft der Gestapo zu entkommen. Den französischen Politiktheoretiker Alexis de Tocqueville hatte Kiesinger nach eigenen Angaben in seiner Zeit als Rechtslehrer während der zweiten Hälfte der 1930er Jahre für sich entdeckt und konsultierte seine Schriften seitdem regelmäßig. Tocqueville, der als Aristokrat im nachrevolutionären Frankreich gegen staatliche Zentralisierung eingetreten war und in seinen Schriften das demokratische Amerika mit einem nüchternen Blick ebenso würdigte wie kritisierte, schien Kiesinger in seinen eigenen politischen Ansichten zu bestätigen.
Auch über Kiesingers Interesse hinaus war Tocqueville in der frühen Bundesrepublik vielseitig anschlussfähig. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Frankfurt zeigt: Innerhalb der Universität setzten sich Lehrende insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren mit Tocqueville auseinander. So bot der Pädagoge und Philosoph Heinrich Weinstock im Sommersemester 1955 eine Veranstaltung mit dem Titel „Übungen über Tocqueville (Die Problematik der Demokratie)“ an, die unter dem Abschnitt „für Hörer aller Fakultäten“ eingetragen war. Im darauffolgenden Wintersemester leitete der Jurist und Politikwissenschaftler Carlo Schmid, der als SPD-Politiker und Tübinger Hausnachbar zeitweise ebenso Kiesingers Weggefährte wie Rivale gewesen war, ein „Politisches Proseminar“ über Tocqueville.
Tocquevilles Schriften boten eine kontinentaleuropäische Perspektive aus dem 19. Jahrhundert auf die politische Ordnung und Kultur der Nation, die nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland und der anschließenden Blockbildung die westeuropäische Politik maßgeblich beeinflusste. Bereits auf der zweiten Seite seiner Dissertation zitierte Kiesinger dazu eine berühmte Stelle aus Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ (1835), die in der Zeit des Kalten Krieges geradezu prophetisch wirkte: „‚Zwei Völker gibt es heute auf der Welt, die von den verschiedensten Ursprüngen her, sich demselben Ziel zu nähern scheinen. Es sind die Russen und die Amerikaner. […] Ihr Ursprung ist verschieden wie ihre Wege, und doch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages in seinen Händen die Geschicke der halben Welt zu halten.’“
Kiesingers Schrift war weniger eine rechtswissenschaftliche Arbeit, sondern berührte vor allem politiktheoretische Themen. Aufgrund dieser Tatsache ließ sich neben Wolf in der juristischen Fakultät kein Zweitgutachter für die Arbeit finden. Nachdem die erste Fakultät über den Fall beraten hatte, beschloss sie laut Fakultätsprotokoll, Kiesinger eine „Umarbeitung“ seiner Dissertation zu empfehlen (28.05.1952, UAF Abt. 110, Nr. 27, Bl. 182). Ob Kiesinger darauf einging, ist in den Akten nicht überliefert.
Tocqueville blieb allerdings auch in seinem weiteren Werdegang sein Thema, wie eine Rede zeigt, die er im Jahr 1960, bereits als Ministerpräsident von Baden-Württemberg, bei der Jahresfeier der Technischen Hochschule in Karlsruhe hielt. Sein Vortrag mit dem Titel „Die Prognosen des Grafen Alexis de Tocqueville am Beginn des Industriellen Zeitalters“ knüpfte in vielen Punkten an seine in Frankfurt eingereichte Dissertation an.
Freilich wurde Kiesingers Sicht auf die vielfältige Figur Tocqueville als Prognostiker nicht von allen Zeitgenossen geteilt. Die erstmals von Jacob P. Mayer im Jahr 1939 ausführlich diskutierte Beobachtung, Tocqueville habe spätere gesellschaftliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorausgesehen, erschien aus historischer Perspektive auch problematisch. Deutlich trat der Frankfurter Historiker Otto Vossler am Anfang des Jahres 1966 in einem Vortrag für die Wissenschaftliche Gesellschaft an der Goethe-Universität diesem Bild Tocquevilles als Propheten entgegen:
„Nun, Tocqueville hat oft und viel prophezeit und deshalb unvermeidlich oft und viel falsch geraten und, ebenso unvermeidlich seltene Treffer oder Scheintreffer erwischt, was schlichten Gemütern immer kolossal imponiert.“ (S. 10)
Trotzdem bescheinigte auch Vossler, der nach dem Krieg die erste Frankfurter Professur mit Schwerpunkt für Englische und Amerikanische Geschichte übernommen hatte, Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ eine „erstaunliche Frische und Spannung.“ Wie aktuelle Diskussionen über die politische Kultur in den USA insbesondere seit der letzten Präsidentschaftswahl zeigen, hat Tocqueville in der Gegenwart nichts an seiner Relevanz verloren. Die Gedanken Tocquevilles zur Demokratie und sein Amerikabild sind noch heute an seinem 215. Geburtstag aktuell. Auch weiterhin bleibt das Thema Tocqueville daher „nicht abgeschlossen.“