„Id facere laus est, quod decet, non quod licet“ – Ja, was ist es denn nun, das sich schickt? Die Frage nach dem Decorum hat heute die Grenzen der klassischen Rhetorik längst überschritten. Man verschafft sich nicht nur durch Rede Geltung beim Rezipienten, sondern sucht nach Angemessenheit auch in vielen anderen Lebensbereichen. Als genuin architektursoziologische Kategorie ist die Suche nach Angemessenheit vor allem eine Identitätssuche. Die symbolische Umbenennung der Universität durch Abänderung des Schriftzugs über dem Eingang des ehemaligen Hauptgebäudes in Karl Marx-Universität am 30. Mai 1968 durch den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) war womöglich die lauteste und öffentlich ausdrucksstärkste Umgestaltung. Ob sie angemessen war?
Einen mindestens genauso großen Aufschrei in der Presse erzeugte auch die Umgestaltung des ursprünglich neobarock gestalteten Portals des Jügelhauses mit geschwungener Freitreppe durch Ferdinand Kramer 1953. Das alte Portal, noch durch zwei Allegorien der Wissenschaft und der Kunst als Portalfiguren verziert, wich einem modernen, lichtdurchfluteten Eingang. Mit dem Wunsch nach mehr Licht und mehr Raum schnitt Kramer „den Eingang mit einer einzigen – entscheidenden Geste – wie mit dem Messer des aufklärerischen Gedankens – in die dekorative Fassade der alten Universität“ (Trauerrede Gert Sell, 8.11.1985). Klare Schnitte und funktionale Prinzipien als Gegenpol zu „Abkapselung und Zunftenge“ (Kramer zit. nach Rau 1987) waren nach Kramer angemessene Leitlinien des modernen Hochschulbaus.
Die Bauaufgabe Universität war auch in den 1950er Jahren noch eng mit den drei großen Lebensfragen: Wie? Was? Warum? verbunden, auf die es bereits zur Eröffnung des Jügelhauses 1907 keine eindeutigen Antworten gegeben hatte. Während man beispielsweise bei der Neugestaltung der Polytechnischen Schule in Darmstadt (später: TU Darmstadt) bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen neutralen, modernen Baustil bevorzugte, wählte der Architekt Ludwig Neher für die Bürger in Frankfurt einen historisierenden Stil und tat damit vor allem eins: Sinn stiften.
Dabei trafen augenscheinlich barocke Universalwissenschaft (mundus combinatus) und humanistisches Bildungsideal aufeinander. Auch im Programm der Akademie gewährleistete die Integration allgemeinbildender Fächer wie Literatur, Musik, Geschichte und Kunstwissenschaften die Anknüpfung an die humanistische Tradition. Analog zu den Universitäten gelangte so auch die Aufstellung von Gipsabgüssen zur Schau.
“Wir haben die Wahrheit der Sprüche: Mens agitat molem und Dies diem docet, welche der akademische Rat an die Front des Hauses schreiben ließ, täglich erfahren“ (Neher, Eröffnungsrede 1907). Als Teil eines Baukomplexes aus Physikalischem Verein, Senckenbergischer Bibliothek und Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften dominierte die an die anderen Bauteile angepasste Architektur: dreigliedriger Baukörper, roter Mainsandstein, Rundbogenfenster, Attika, Dachterrasse und eine mit Bauschmuck überzogene Fassade. Die beiden Leitsätze an Front des Gebäudes überdauerten dabei alle Lebensphasen und erhielten den Geist wissenschaftlicher Identität in der Zukunft.
„Mens agitat molem!“
Die Wahl der lateinischen Inschrift aus dem immer wiederkehrenden Passus der „Offenbarungsrede“ des Anchises in Vergils Aeneis (XI, 724-727) wirft Fragen auf. Finden wir uns wie Aeneis in der Unterwelt wieder oder offenbart sich uns hier ein Neuanfang nach langer Irrfahrt mit Blick in die heroische Zukunft der Stadt Frankfurt? Sind die großen Drei der Geschichte Kant, Goethe und Humboldt, als Embleme im Scherenschnitt und mit Goldrand an der Fassade verewigt, ein entsprechender Verweis auf Vergangenheit und Zukunft? Der andauernden Wiederkehr von Sonne und Mond entsprechend und der Kenntnis über die Abhängigkeit des Einzelnen zum Ganzen, gehen Wissenschaftler und Wissenshungrige hier zu Arbeit und Studium: Der Geist bewegt die Materie.
„Dies diem docet“
Das zweite Zitat greift das barocke Thema des Portals auf und positioniert sich irgendwo zwischen dem Lebensgefühl eines Carpe Diem und Memento mori. Auch wenn der Autor dieses Zitates, Publilius Syrus, weniger bekannt ist als sein Nachbar, so verweist auch dieser aphorismenartig auf die Initiation von Gelehrsamkeit, das Aufsteigen und Erreichen einer höheren Sphäre. Was übersetzt „Ein Tag lehrt den anderen“ bedeutet, könnte auch meinen „Erfahrung macht klug“ oder salopp gesagt „Jeden Tag ein bisschen besser“, wie uns eine große Supermarktkette in der Nachbarschaft der Uni zu lehren versucht.
Von der Gestaltung des Jügelhauses lernen wir also: Angemessen heißt, sich Elemente und Stile zu borgen, mit denen wir unsere Identität unterstreichen und unseren Kern nach außen tragen können.